62

Böen rüttelten am offenen Fenster. Das Klappern und Quietschen wurde immer stärker. Sofi erwachte. Im dunklen Zimmer duftete es nach Wind. Ihr Kopf war klar, aber ihre Glieder fühlten sich schwer an.

Sie lag da und lauschte dem Rascheln der Ulme vor dem Fenster. Dabei überlegte sie, wieso der Geruch wirbelnder Luft immer etwas Tröstendes hatte, obwohl doch das Gegenteil viel näher lag. Vielleicht ließ einen erst der Wind spüren, dass man eigentlich in einer Substanz lebte, ohne sie wahrzunehmen.

Sie versuchte zu erraten, wie spät es war. Ihr Schlafzimmer lag nach Osten, aber draußen gab es kein Anzeichen der Dämmerung.

Den Nachmittag hatte sie mit Barbro im Schwimmbad verbracht und dann mit Karl-Emil und seinen Freunden eine Partie Poker in der Meerjungfrau gespielt. Tagelanger Regen im nördlichen Uppland hatte das Wasser des Mälarfjords stark steigen lassen. Die Schleusen im Hammarbyhafen und in der Altstadt mussten geöffnet werden. Das waren Neuigkeiten, wie Karl-Emil und Janne sie liebten.

Sofi stellte sich ans Fenster und betrachtete die schnell über den Himmel ziehenden Wolken. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Irgendwo musste auch ihr Notizblock liegen. Sie ging in die Küche, öffnete den Wasserhahn und nahm ein Glas aus dem Schrank. Durch das Küchenfenster sah sie, wie sich die Bäume wiegten. Hinter dem Haus begann gleich der Hügel von Vita Bergen, so dass Sofi sich beim Kochen wie eine Bergbäuerin aus Jämtland fühlte. Ihr Blick blieb an etwas haften, das sich am Weg hinauf auf den Hügel befand, nur zehn Meter von ihrem Fenster entfernt.

Das war nicht Wirklichkeit.

Sofi spürte ihre Knie nachgeben. Sie fiel zu Boden und atmete heftig. Das hatten ihre Beine ganz allein getan, aus reinem Reflex, so wie man die Hand von der Herdplatte zieht, ohne sich dazu entschließen zu müssen. Mit der Erkenntnis wuchs der Schrecken. Sie saß steif da und versuchte zu denken. Hatte ihr das Gehirn nur einen Streich gespielt? Zugleich war das Bild in allen Einzelheiten ausgeprägt. Sie hätte aufstehen und sich durch einen zweiten Blick vergewissern können, aber dazu brachte sie nicht den Mut auf.

Nein, das war keine Einbildung. Sofi krabbelte in den Flur hinaus zu ihrem Telefon. Sie drückte auf die vier.

„Einsatzzentrale Bezirk Stockholm.“

„Inspektorin Sofi Johansson. Haupteinheit Reichsmord. Ich brauche dringend Hilfe.“

„Authentifizierung bitte.“

„4177.“

„Wo bist du?“

„Ich bin zu Hause in meiner Wohnung. Tengdahlsgatan 18 in Södermalm. Vor meinem Küchenfenster steht ein Mädchen.“

Sofi merkte, wie blöd das klang. Aber sie traute sich nicht, das Bild in ihrem Kopf noch einmal ganz zu entwickeln. Und es war nicht nur ein Bild, sondern ein kurzer Film. Das Mädchen glich Fabia Terni vollkommen. Sie musste es sein, und konnte es auch wieder nicht sein. Das Mädchen da draußen war höchstens sechzehn Jahre alt. Sie hatte schon zum Fenster gestarrt, als Sofi in die Küche kam. Das lange dunkle Haar hatte im Wind geweht.

„Es geht um Akte 3981/4/17-K. Sie ist versiegelt.“

Das ersparte ihr jede Begründung.

„Verstehe. Geht von dem Mädchen Gefahr aus?“

Ja, dachte Sofi. Sie war der reine Schrecken. „Sie steht nicht zufällig da. Wahrscheinlich ist sie nicht allein. Kannst du jemand von hinten schicken?“

„Moment … 9012 fährt auf der Renstiernas Gatan Richtung Süden. 9012, bitte kommen. Polizist in Gefahr. Tengdahlsgatan 18. Kommen.“

Eine blechern klingelnde Männerstimme antwortete. „9012. Sind am nächsten. Kommen.“

Sofi lauschte dem Funkverkehr. „Sie sollen an der Sofia-Kirche halten und den Weg zum Freilichttheater nehmen. Von dort führt ein Weg hinab aus dem Park. Dort steht sie. Vor dem gelben Haus.“

„9030. Sind am zweitnächsten am Viking-Fährterminal in Fåfängen. Nähern uns frontal. Kommen.“

„Zentrale an 9030. Grünschaltung installiert für Eilfahrt über Folkungagatan und Tegelviksgatan. Anfahrt Tengdahls von Süden. Nummer 18 liegt frontal in der Straßenbiegung. Kommen.“

Sofi überprüfte die Haustür, nahm ihre Pistole aus der Schublade und entsicherte. Geduckt lief sie zum Schlafzimmerfenster und schloss es. Langsam überkam sie Ruhe, jedenfalls schlug ihr das Herz nicht mehr bis zur Kehle.

Sie setzte sich wieder auf den Küchenboden. Nach sechs Minuten sah sie Lichter über die Baumkronen huschen und hörte schnelle Schritte auf dem Kiesweg. Weiter geschah nichts. Bis es klingelte.

03 - Der kopflose Engel
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